
Bei dem Brüsseler Meeting war es nicht mehr zu übersehen: Das IPCEI-CIS, von der Europäischen Union unter deutscher Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 ins Leben gerufen und 2023 von der EU-Kommission genehmigt, hatte beachtliche Dimensionen angenommen. Bei dem Kick-off-Termin gab es bereits rund 120 Projektpartner, von denen ein beträchtlicher Teil den Weg nach Brüssel angetreten war. Ein solches Projekt brauchte einen griffigeren Namen. Vorhang auf für „8ra“, den neuen Markennamen für die künftige europäische Edge-Cloud-Infrastruktur. Allerdings hatte schon die Vorgängerbezeichnung den Stellenwert des Projekts verdeutlicht: IPCEI steht für „Important Project of Common European Interest“, CIS für „Cloud Infrastructure and Services“.
Im Kern zielt 8ra darauf ab, die digitale Souveränität Europas zu stärken, indem die Abhängigkeit von Technologien verringert wird, die nicht aus der EU stammen. Das Feld der europäischen Cloud-Anbieter ist stark zersplittert, zusammen machen sie weniger als 13% des Weltmarkts aus. Dominiert wird der Markt von wenigen großen Unternehmen aus Drittstaaten, allen voran USA sowie China. Doch deren Angebote sind für europäische Unternehmen und Behörden nicht unproblematisch: Oft bleiben Datenschutzfragen offen, z.B. wenn die Muttergesellschaften unter außereuropäischem Recht operieren. Es mangelt an Transparenz und offenen Standards. Auch ein Vendor Lock-in – eine Abhängigkeit von einem einzelnen Anbieter – kann schnell entstehen, etwa wenn Dienste auf proprietärer Technologie basieren, Schnittstellen fehlen oder wenn der vertragliche Rahmen einen Anbieterwechsel erschwert.
Finanziert durch die Europäische Union – NextGenerationEU. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Union oder der Europäischen Kommission wieder. Weder die Europäische Union noch die Europäische Kommission können für sie verantwortlich gemacht werden.

„Es gibt gute Gründe für europäische Unternehmen und Behörden, auf Cloud-Lösungen made in Europe zu setzen“, sagt Dr. Elisabeth Rieger, die für secunet die Arbeit am 8ra-Projekt koordiniert und auch an dem Meeting in Brüssel teilgenommen hat. „Da kommt die Edge-Cloud-Initiative der EU gerade recht. Durch die Förderung und durch den gemeinsamen Rahmen mit so vielen Partnern auf europäischer Ebene fällt es deutlich leichter, Lösungen und Produkte in diesem Bereich zu entwickeln.“
8ra wird nicht an einen einzelnen Anbieter gebunden sein, sondern großen Wert auf Interoperabilität der Angebote legen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Datenverarbeitungslösungen verschiedener europäischer Hersteller werden kombiniert, um Anwendungen zu ermöglichen, bei denen niedrige Latenzzeiten und hohe Geschwindigkeiten gefragt sind – zum Beispiel autonomes Fahren oder die Vernetzung von kritischen Infrastrukturen wie Windkraftanlagen oder Infrastruktur des öffentlichen Personennahverkehrs.

Edge und Cloud kombiniert
Das Edge-to-Cloud-Kontinuum kombiniert die Vorteile des Cloud Computing mit denen des Edge Computing. Was ist damit gemeint? Cloud-Ressourcen können prinzipiell über das gesamte Netzwerk verteilt sein. Sie bieten hohe Flexibilität und Skalierbarkeit, weisen aber eine gewisse zeitliche Verzögerung – Latenz – auf und eignen sich daher oft nicht für Echtzeitanwendungen. Edge-Komponenten hingegen sind nahe an den jeweiligen Endgeräten wie z.B. Windkraftanlagen platziert – und somit am Rande (Edge) des Netzwerks. Dort können auch Echtzeitdaten schnell und sicher verarbeitet werden, die Latenz liegt praktisch bei Null. Auch Datenschutzaspekte und die schiere Datenmenge sprechen zunehmend für den Einsatz von Anwendungen nahe am Entstehungsort der Daten.
Daher liegt es nahe, die beiden Ansätze zu verbinden. In einem Edge-to-Cloud-Kontinuum können Daten und Anwendungen je nach ihren jeweiligen Anforderungen an den Edge-Standorten verbleiben, in die Cloud verlagert werden oder auch irgendwo dazwischen angesiedelt sein – es handelt sich eben um ein echtes Kontinuum. Für Echtzeitdaten etwa steht die Edge bereit, dort werden sie schnell und sicher verarbeitet. Weniger zeit- und sicherheitskritische Aufgaben werden in der Cloud erledigt.
Zentrale Komponenten für 8ra
Für diese Infrastruktur entwickelt secunet gemeinsam mit Partnern wie SAP, ADVA und der Lindner AG zentrale Komponenten: sogenannte Edge-Cloud-Nodes. Diese hochsicheren und sich automatisch vernetzenden Module werden dezentral in der jeweiligen Einsatzumgebung betrieben – zum Beispiel an Energieerzeugungsanlagen wie Windrädern, wo dies besonders energieeffizient möglich ist. Letztlich sind verschiedene Betriebsstätten an Land, zu See oder auch mobil – in verlegbaren Containern – denkbar. Verbunden mit anderen Edge-Cloud-Nodes ergeben sich dann große Rechennetzwerke. Dies schafft die Grundlage für den Austausch und die Verarbeitung großer Datenmengen zu potentiell niedrigen Betriebskosten und eine verteilte Datenverarbeitung, die stärker auf lokale Gegebenheiten, Bandbreiten, Ausfallszenarien und Resilienz eingeht. Die Vernetzung geschieht entweder kabelgebunden oder per Mobilfunk, mit dem künftigen Standard 6G.

ORGANISATIONEN AUS ZWÖLF EU-MITGLIEDSSTAATEN SIND AN 8RA BETEILIGT.
„Bei den Edge-Cloud-Nodes wird es darauf ankommen, dass die Lösungen einfach zu implementieren sowie skalierbar und interoperabel sind“, sagt Dr. Kai Martius, Chief Technology Officer von secunet. „Solche Lösungen werden wir im Rahmen des 8ra-Projekts entwickeln und danach zu ausgereiften, industriell herstellbaren Produkten ausbauen.“
Sicherheit und Open Source
Bei dem Vorhaben nimmt Cybersicherheit eine zentrale Rolle ein – heimisches Terrain für secunet mit seiner jahrzehntelangen Expertise in dem Bereich. „Das 8ra-Kontinuum ist unter anderem für den Einsatz in kritischen Infrastrukturen gedacht und soll daher besonders schützenswerte Daten verarbeiten können“, sagt Elisabeth Rieger. „Daher werden in den Nodes anspruchsvolle Kryptografie und fortschrittliche Virtualisierung zum Einsatz kommen.“
Ein weiterer entscheidender Punkt ist das Vertrauen auf Open-Source-Technologie. Denn der Einsatz offener Standards und allgemein zugänglicher Softwarebausteine garantiert Nachprüfbarkeit und Transparenz – Kriterien, denen jedes Cloud-Angebot genügen sollte, das sich echte digitale Souveränität auf die Fahnen schreibt. „Ein weiterer typischer Vorteil offener Software ist, dass sie herstellerübergreifend in der Community weiterentwickelt wird“, so Rieger. „Daher werden wir die Ergebnisse unserer Projektarbeit anschließend der Allgemeinheit zugänglich machen, so wie es bei Open Source üblich ist.“

Heiße Phase der Cloudifizierung
Das Projekt fällt in eine Zeit, in der die Cloud-Transformation noch einmal kräftig Fahrt aufgenommen hat: Nachdem Unternehmen und Privatpersonen schon seit vielen Jahren verstärkt Cloud-Lösungen nutzen, folgen aktuell Behörden und Unternehmen mit besonderen Sicherheitsanforderungen, die bislang von dieser Entwicklung ausgeschlossen waren. Für sie muss die Cloud deutlich höheren Sicherheits- und Datenschutzstandards genügen, und auch der Aspekt der digitalen Souveränität besitzt größere Relevanz. Daher erweitert secunet mit der hundertprozentigen Tochter SysEleven stetig das souveräne Public-Cloud-Angebot mit Edge- und Sicherheitsangeboten. Kai Martius: „Als Bürger kann ich vielleicht damit leben, dass ein außereuropäisches Unternehmen potentiell Zugriff auf meine Urlaubsfotos hat. Behörden oder Unternehmen, die für die Gesellschaft wichtige Dienstleistungen erbringen, sollten jedoch keinesfalls mit solchen Datenschutzrisiken leben müssen. Daher engagieren wir uns bei secunet für die souveräne und hochsichere europäische Cloud-Infrastruktur. Unsere Entwicklungen für das Edge-to-Cloud-Kontinuum werden dieses Portfolio optimal ergänzen.“
Das 8ra-Projekt ist bereits in vollem Gang und läuft bis Ende 2026. Der Zeitrahmen zeigt: Entwickelt wird durchaus anspruchsvolle Technologie, das geht nicht von heute auf morgen. Dennoch wurde für das Laufzeitende ein Termin in Sichtweite gewählt. Denn bei dem Bestreben, Europa von technologischen Abhängigkeiten zu befreien, ist nicht viel Zeit zu verlieren.
Dr. Elisabeth Rieger leitet seit 2023 die geförderten Projekte des CTO-Office von secunet und unterstützt unternehmensweit bei der Durchführung weiterer geförderter Projekte auf EU- und Landesebene. Die promovierte Chemikerin erlangte durch das mehrjährige Management von geförderten Projekten des Chemie-Clusters Bayern tiefere Einblicke in die Förderprojektlandschaft und deren administrative Rahmenbedingungen.

Kontakt:
Dr. Elisabeth Rieger
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