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Perspektiven
Industrie 4.0 in der Forschung
"Am E4TC kann echte Innovation stattfinden"

Die digitale Transformation der Industrie lebt von agiler Erarbeitung und Umsetzungserfahrung. Hier setzt das European 4.0 Transformation Center (E4TC) an, das im Jahr 2015 als Kooperationsplattform auf dem RWTH Aachen Campus gegründet wurde. Seinen Mitgliedern aus Industrie, Forschung und IT, zu denen auch secunet gehört, bietet das E4TC die Möglichkeit, ganzheitliche Prozessszenarien oder Lösungsarchitekturen weiterzuentwickeln und zu teilen. secuview sprach mit Prof. Dr. Thomas Gartzen, Geschäftsführer des E4TC.

Im Interview
Prof. Dr. Thomas Gartzen
Geschäftsführer des European 4.0 Transformation Center (E4TC) am RWTH Aachen Campus
— Wie ist der Stand der digitalen Transformation der Industrie heute?

Spätestens seit den Herausforderungen, die die Corona-Pandemie für die Industrie mit sich gebracht hat, ist einem Großteil der Unternehmen sehr deutlich klar geworden, dass sie nur durch Digitalisierung und Vernetzung ihrer Arbeitswelten die notwendige Resilienz für solche dynamisch instabilen Situationen aufbauen können. Insofern hat sich insbesondere in den letzten beiden Jahren unheimlich viel bewegt in der Industrie und wir sehen heute nahezu überall digitale Transformationsprogramme auf den strategischen Agenden der Unternehmen – ob Mittelständer oder Konzerne. Selbstverständlich sind die Reifegrade einzelner Unternehmen und Industrien ganz unterschiedlich. Wichtig ist diesbezüglich, dass der Status quo im Unternehmen transparent ist, denn nur mit einem unverstellten Blick auf die eigenen Prozesse und Applikationslandschaften und ohne unrealistische Erwartungen kann eine digitale Transformation gelingen.

— Welches sind die größten Hindernisse, die bei Digitalisierungsprojekten auftauchen können?

Aus meiner Sicht gibt es zwei verschiedene Arten von Hindernissen. Zum einen sind da die klassischen technologischen Hürden, die durch die Vernachlässigung einer langfristigen strategischen Planung entstehen. Allzu oft wird in der Industrie in voneinander abgekapselten Use Cases und Proof of Concepts gedacht. Ohne eine übergeordnete Digitalisierungsstrategie und dazugehörige IT-Architektur, die als Nordstern alle Digitalisierungsaktivitäten auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet, ist das spätere Skalieren der initialen Lösungen oft nicht möglich. Dies führt dazu, dass das eigentliche Potential durchgängiger Informationsflüsse, nämlich das Schließen von Regelkreisen im und über das Unternehmen hinweg, nicht ausgeschöpft werden kann.Zum anderen sind auch organisatorische Hindernisse zu überwinden. Digitalisierungsprojekte sollten nicht nur Top-down angeordnet werden, sondern immer auch die Anwender*innen in den Entwicklungsprozess mit einbeziehen und sie zu aktiven Akteur*innen der Transformation machen. So wird einerseits implizites Wissen sinnvoll genutzt, andererseits werden eingebundene Mitarbeitende die Projekte auch viel besser akzeptieren. Denn viele Menschen in Unternehmen begegnen Digitalisierungsprojekten mit großen Vorbehalten, da dadurch Prozessroutinen aufgehoben werden sowie neue Abläufe und Standards eingeführt werden, die zuerst gelernt und sich angeeignet werden müssen. Je partizipativer dieser Gestaltungsprozess ist, desto steiler ist die Lernkurve bei deren Einführung und desto minimaler sind die Vorbehalte gegenüber digital vernetzen Arbeitsprozessen.Gleichzeitig ist es wichtig, Erfolge stets bewusst zu reflektieren und Digitalisierung als einen kontinuierlichen Prozess anzusehen. Eine agile Arbeitsweise in Sprints, in der in kurzen Zyklen Veränderungen eingesteuert, verprobt und evaluiert werden können, hat sich dabei bewährt.

— Welchen Stellenwert hat Ihrer Erfahrung nach das Thema Datensicherheit bei der digitalen Transformation hin zur Industrie 4.0?

In der Transformation zur Industrie 4.0 ist Datensicherheit eines der zentralen Handlungsfelder. Ziel der Digitalisierung und Vernetzung unserer Produktions- und Arbeitswelten ist es, neben den Arbeitsprozessen auf der Maschinen- und Anlagenebene insbesondere die planerischen und regelnden Abläufe zu automatisieren. Das heißt: den Mitarbeitenden durch digitale Hilfsmittel bestmöglich bei seinen Aufgaben und Entscheidungen zu unterstützen. Dies setzt voraus, dass unternehmensspezifisches, meist implizites Know-how digital abgebildet wird, um es etwa für KI-Anwendungen nutzbar zu machen. Auf diese Art und Weise können IT-Applikationen beispielsweise Maschinenführer*innendabei helfen, Produktionsanlagen nachhaltiger zu steuern, indem Qualitätsverluste und ein zu hoher Energieverbrauch in Echtzeit datenbasiert prognostiziert und somit verhindert werden. Jedoch ist das dafür notwendige Wissen über den Produktionsprozess, welches expliziert und digital abgebildet werden muss, für ein Unternehmen wettbewerbsrelevant und unbedingt schützenswert. Die entsprechenden IT/OT-Infrastrukturen müssen also zuverlässig vor Angriffen geschützt werden, die sowohl über das Internet als auch vor Ort erfolgen können. Es wird deutlich, dass die Lösungen der Industrie 4.0 ihren Nutzen nur entfalten können, wenn eine umfassende Datensicherheit gewährleistet ist.

Die Partner des European 4.0 Transformation Centers (E4TC) sind Forschungsinstitutionen sowie langjährige Mitglieder des RWTH Aachen Campus, welche sich als Technologieanbieter bzw. Industrieunternehmen der digitalen Transformation in ihrem jeweiligen Bereich engagieren. Sie bilden im E4TC eine exklusive Kooperationsplattform für eine kontinuierliche und langfristige wissenschaftliche Zusammenarbeit.

In Versuchsumgebungen können Expert*innen Produktionsanlagen in Testszenarien aufbauen und verbessern. Mit seiner Demonstrationsfabrik steht das E4TC Industrieunternehmen bei deren digitaler Transformation mit Rat und Tat zur Seite – so z. B. beim Thema Industrial Internet of Things (IIoT). 

secunet ist seit Frühjahr 2022 Mitglied des E4TC und bringt vor allem seine Expertise im Bereich der industriellen IT-Sicherheit ein. Ein erstes Projekt gemeinsam mit Liebherr IT und Hewlett Packard Enterprise (HPE) ist bereits gestartet.

— Welche Ziele verfolgt das E4TC?

Das E4TC bringt Industrieunternehmen, Technologieanbieter und Wissenschaft zusammen, um gemeinschaftlich neue Lösungen zur digitalen Transformation der produzierenden Industrie zu erarbeiten. Der Betrachtungsbereich, den unser Ökosystem dabei einnimmt, ist bewusst sehr breit gewählt. Denn unserer Überzeugung nach muss in einer Industrie 4.0 die digitalisierte Vernetzung schon in den Entwicklungsprozessen eines Unternehmens berücksichtigt werden. Von dort erstreckt sie sich über die Produktion bis in die Kundenprozesse, bei denen beispielsweise Daten über die Nutzung eines Produkts gesammelt werden. Insbesondere in der aktuellen Forschung zur Realisierung einer Circular Economy wird sehr schnell deutlich, dass eine echte Kreislaufwirtschaft ohne solch eine digitale Datendurchgängigkeit nicht realisierbar ist.Im E4TC werden solche Ansätze zur Erprobung und Validierung beispielsweise in der Demonstrationsfabrik konkret umgesetzt. Das dient gleichzeitig auch der anschaulichen und erfahrbaren Weitervermittlung dieser Lösungen. Somit steht die Mitglieder-Community des E4TC auch Industrieunternehmen außerhalb unseres Ökosystems bei Fragen rund um die digitale Transformation mit Rat und Tat zur Seite.

— Wie läuft die Zusammenarbeit im Rahmen des E4TC konkret ab?

Unsere Zusammenarbeit verfolgt immer das Ziel, in Form von konkreten Projekten neue digitale Technologien zusammenzuführen oder zu erweitern, um sie auf industrielle Applikationsfelder anzuwenden und ihren Nutzen nachzuweisen.Nachdem eine gemeinsame Aufgaben- und Zielstellung definiert worden ist, wird ein agiles Projektteam mit Expert*innen unserer Mitgliederunternehmen sowie Kolleg*innen des Centers und der universitären Institute gebildet. Dieses heterogen zusammengesetzte Team erarbeitet dann in kurzzyklischen Sprints während eines Zeitraums von drei bis sechs Monaten eine konkrete Lösung in Form eines Minimal Viable Products (MVP). Wir gehen dabei ganz gezielt über die reine theoretische Konzeption hinaus und haben immer zum Ziel, keine PowerPoint-Präsentation, sondern eine funktionsfähige digital-physische Lösung zu entwickeln. Hierbei kommt uns selbstverständlich die einmalige Infrastruktur des RWTH Aachen Campus mit seiner Demonstrations- und Anlauffabrik sowie diversen Reallaboren zugute.

— Wie profitieren die Mitglieder von Technologien und Erkenntnissen, die im Rahmen des E4TC entwickelt werden?

Die Vernetzungs- und Kollaborationsmöglichkeiten in dem Ökosystem des RWTH Aachen Campus, das aus Spitzenforschungsinstituten und über 400 innovativen Unternehmen besteht, sind aus meiner Sicht in Europa einzigartig.Im E4TC steht wie bereits erwähnt die konkrete Umsetzung und stetige Weiterentwicklung funktionsfähiger digital-physischer Lösungen im Vordergrund. Da dies immer im Verbund mit anderen Mitgliedern geschieht, kommen die Unternehmen unmittelbar mit neuen Technologien und Ansätzen in Berührung und können gleichzeitig die eigene Expertise in einem realen Ökosystem demonstrieren. Durch regelmäßig stattfindende Führungen, Workshops und Events der einzelnen Mitglieder sehen nicht nur Vertreter*innen der Mitgliedsunternehmen, sondern auch viele Entscheider*innen aus der Industrie diese Lösungen. Frei nach dem Motto „Zeigen ist besser als behaupten“ wird so Kompetenz glaubhaft demonstriert. Die Darstellung des eigenen technologischen Lösungsbestandteils in einem größeren und anwendungsbezogenen Kontext wie etwa in der Demonstrationsfabrik hilft dabei ungemein, den Technologienutzen erfahrbar zu vermitteln. Anhand klar definierter, praxisrelevanter und oft sogar aus der direkten Industriepraxis unserer Mitglieder abgeleiteten Aufgabenstellungen kann am E4TC echte Innovation stattfinden. Mit unseren Mitgliedern arbeiten wir dabei stets an der Umsetzung des technologisch Möglichen. Von der Ideengenerierung über iterative Verprobung und Weiterentwicklung bis hin zum Anstoß der Re-Industrialisierung decken wir alle Phasen ab. Dabei unterstützen wir mit langjähriger Expertise sowie einem starken Netzwerk aus Praxis und Wissenschaft.

Prof. Thomas Gartzen verfügt über mehr als zehn Jahre praktische Erfahrung in der digitalen Transformation sowie der Realisierung von Industrie 4.0-Projekten entlang der gesamten Wertschöpfungskette produzierender Unternehmen. Thomas Gartzen studierte an der RWTH Aachen Maschinenbau und war nach seiner Promotion 2012 als Geschäftsführer der DFA Demonstrationsfabrik Aachen GmbH tätig, einer Referenzfabrik für Industrie 4.0 auf dem RWTH Aachen Campus. Seit 2016 ist er in geschäftsführender Funktion für die European 4.0 Transformation Center GmbH verantwortlich. Thomas Gartzen ist zudem seit 2021 Inhaber der Professur für Fertigungssysteme an der Technischen Hochschule Köln.

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